Freitag, 20. August, 12.58 Uhr – Der Weg zum Seeufer



Für Stefanie war die letzte Woche wie in einem Traum abgelaufen, nie war sie wirklich anwesend. Das letzte Treffen mit Georg war intensiv gewesen. Und zum ersten Mal waren sie an den Rand eines Streits gekommen. Nun hatte sie dieses Gefühl unablässig verfolgt. 'Zu nah gekommen. Ist es das?' Sie war sich nicht sicher. Vielleicht sollten sie einen Weg „zurück“ finden. Diese Nähe lockern, um wieder unbefangen sein zu können. 'Georg und ich? Unvorstellbar!' Er war ganz anders als sie. Immer so ernst, nahm das Leben viel zu schwer.

'Aber er nimmt auch dich ernst', hatte sie dann gedacht. 'Und wer hat sich jemals so aufrichtig für deine Gefühle interessiert?'

 

Georg wollte pünktlich sein. Er lief die Straße entlang in Richtung Seeufer – dem vereinbarten Treffpunkt. Die ganze Woche hatte dieses Gefühl ihn verfolgt. 'Sie wird nicht mehr kommen. Nie mehr.'

Er hatte überlegt, ob es einen Weg geben könnte. Einen Weg zu einem „Mehr“. Aber war das möglich. Er hatte mit ihr diskutiert. Ein Streitgespräch. Die ganze Woche lang. In seinem Kopf. Was sollte aus ihnen werden. War es das Risiko wert, ihre gute Freundschaft zu gefährden? Der wöchentliche Termin mit Stefanie war ihm wichtig – so wichtig.

 

Dann war sie ihm wieder eingefallen. Die Geschichte der Inselbewohner. Als Kind hatte er sie zum ersten Mal gehört und war fasziniert gewesen. Aber der tiefere Sinn, der wurde ihm erst jetzt klar.

 

 

Für eine endlos lange Zeit hatten die Inselbewohner an ihrem Strand gelebt. Sich selbst überlassen –mit sich selbst zufrieden. Doch in einer dieser Nächte, in denen die Wellen so hoch waren, dass sich alle in den nahen Wald zurückzogen, weil sie Angst hatten, das tobende Wasser könnte den Strand verschlucken, da spuckte das Meer etwas aus. Es war eine Flasche, sorgsam verschlossen. Und hielt man sie gegen die Sonne, so konnte man sehen, dass sich etwas in ihr befand.

 

Die Inselbewohner waren voller Sorge, noch nie zuvor hatten sie einen solchen Gegenstand gesehen. Nach zweitägiger Beratung wurde beschlossen, das Ding aus dem Meer zu öffnen. Doch die Verwirrung war groß, denn was sie fanden, war ein Stück Papier, auf das nur ein paar ihnen unbekannte Zeichen geschrieben waren. Angst legte sich über die kleine Gemeinschaft und bald wagte niemand mehr, darüber zu sprechen.

 

Doch eines Abends betrat der jüngste Mann des Rates das Zelt des Ältesten. „Im Grunde wissen doch alle, was unser Fund bedeutet. Warum sprichst nicht wenigstens du es aus?“ „Das wäre zu gefährlich“, sagte der alte Mann, „die Folgen für unser Volk sind nicht abzusehen.“ „Aber wir können es nicht totschweigen!“ Der junge Mann war zornig. Doch sein Gesprächspartner blieb stur. „Ich will nie wieder etwas davon hören!“

 

Das Meer war ruhig in dieser Nacht, doch der junge Mann wurde von Träumen aufgewühlt. In seinen Gedanken betrat er den Strand und sah über das Wasser. Und plötzlich, an einer weit entfernten Stelle, wo das Sehen nur mehr Erahnen ist, konnte er etwas erkennen. Einen Strand. Eine andere Welt.

 

Am nächsten Abend während der Versammlung des Rates konnte er sich nicht mehr zurückhalten. „Es gibt eine zweite Welt. Wir alle wissen das. Und wir müssen aufbrechen, um sie kennen zu lernen.“ Dies war der Moment der Wahrheit. Einige wurden so wütend, dass sie ihn einsperren wollten – mindestens das.

Viele Wochen lang wurde diskutiert und gestritten, die beiden Lager standen sich unversöhnlich gegenüber. Doch der junge Mann und ein paar Anhänger ließen sich nicht abhalten. „Wir bauen ein Boot und suchen die andere Welt!“

Und so geschah es.

 

Als der Tag des Aufbruchs gekommen war, versammelte der Älteste alle Inselbewohner am Strand. Nach einiger Zeit des Schweigens begann er zu sprechen:

„Wir waren glücklich in unserer Welt, denn wir kannten nur sie. Bis das Ding aus dem Meer kam. Glaubt mir, jede Nacht habe ich seit diesem Tag unser Schicksal beklagt und ich wünschte, es wäre nie zu uns gelangt. Doch die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Seit wir von den Möglichkeiten wissen, ist das Festhalten an der alten Ordnung für viele zum Gefängnis geworden. Wir wissen nicht, ob unsere tapferen Freunde jemals die zweite Welt finden. Ob ihr Boot den Stürmen Stand hält. Und ob sie die Kraft und den Wunsch haben werden, irgendwann wieder zurückzukehren. Doch wünschen wir ihnen Glück, denn hier können sie nicht bleiben, was auch immer sie erwartet.“

 

Nach einer langen und herzlichen Verabschiedung stach das Boot in See und verschwand schon bald am Horizont.

 

Man hat es niemals wieder gesehen. Doch noch heute blicken nicht wenige Inselbewohner in klaren Nächten zum Himmel und träumen von der zweiten Welt. Sie sehen das Boot an einem fremden Strand - und seine Besatzung am Ziel.

 

 

Georg lief nun so schnell er konnte. Noch nie schien ihm Pünktlichkeit so wichtig gewesen.

Kurz vor dem Ziel verlangsamte er seinen Schritt und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Plötzlich war er sich ganz sicher.

Er ging die letzten Meter, ließ die letzte Biegung hinter sich.

Und da stand sie.

 

 

 

 

 

 

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