Nächtliche
Begleiter
Es war eine dieser Nächte, in denen sich nicht einmal der Mond in die
Dunkelheit hinaus wagt. In einer solchen Nacht lag Frank auf seinem Bett und
starrte in die Dunkelheit.
An Schlaf war nicht zu denken, denn er war nicht allein.
Sein ganzes Leben war bei ihm. Oder besser: das, was er für sein Leben hielt. Vergangenheit und Zukunft lagen wie eine tonnenschwere Last auf seiner Brust und sein Hals war wie zugeschnürt.
So waren seine Nächte. Seit Sonja gegangen war. Und trotzdem hatte er es irgendwie überstanden.
Doch heute war alles anders. Es musste etwas geschehen. Er musste das Leben spüren, um sich nicht zu verlieren.
Frank sprang aus seinem Bett, zog nur den Mantel und seine Schuhe an. Dann lief er auf die Straße hinaus.
Der Regen war ziemlich stark, doch das bemerkte er kaum. Solange er nur die kühle Luft atmen konnte.
Für einige Zeit ging er ziellos durch die Nacht.
Dann hörte er plötzlich ein Geräusch. Es klang wie das Schreien eines Kindes, aber doch anders. Er sah sich um und bemerkte, dass es aus dem Untergeschoss eines verlassenen Hauses kam. Nun hoffte er, irgendwo in den Nachbarhäusern Licht zu sehen. Irgendjemand sollte sich darum kümmern, nur nicht er. Hatte er nicht ganz andere Probleme zu lösen? Doch danach fragt das Leben nicht und so blieb alles dunkel. Langsam ging er zu dem alten Haus. Durch eine Maueröffnung konnte er dank der Straßenbeleuchtung ein paar Umrisse erkennen. Er erahnte eine kleine Katze. Sie war anscheinend eingeklemmt worden. Gefangen in einem kleinen Erdloch, das sich mit Regenwasser füllte.
Frank zögerte. Bestimmt würde der Regen bald nachlassen und der besorgte Besitzer seine Katze gleich morgen hier finden.
Aber an diesen Ausgang der Geschichte konnte er nicht glauben.
Er könnte die Polizei rufen.
In seinem Aufzug? Um diese Zeit?
Nein!
Aber was, wenn sich nicht nur die Katze in dem Haus aufhielt? Wenn er und die Katze das Haus nie mehr verlassen würden, weil jemand Drittes sich zu ihnen gesellen würde?
„Das Tier wird ertrinken, das Erdloch sein Grab werden!“
Plötzlich gab es für ihn nur noch eine Handlungsalternative. Er nahm allen Mut zusammen und betrat das Erdgeschoss durch einen Eingang ohne Tür.
Frank konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Langsam tastete er sich durch zwei Räume, auf der Suche nach einer Kellertreppe. Doch man kann im Leben noch so vorsichtig sein: ein falscher Schritt genügt!
Der Boden gab mit lautem Krachen nach und Frank stürzte in die Tiefe. Irgendwo prallte er gegen einen Balken. Ein rostiger Nagel, der schon lange keine sinnvolle Funktion mehr erfüllte, riss ihm eine tiefe Wunde in den rechten Oberarm.
Sein Aufprall im Untergeschoss war hart. Und setzte auch dort einiges in Bewegung. Was auch immer die Katze festgehalten hatte, es hatte sich gelöst. Sie war frei. Einen kurzen Moment sah er ihre Augen. „Du warst gar nicht gefangen“, dachte er, „du hast auf mich gewartet.“ Für einen Moment meinte er, er könnte etwas in ihren Augen sehen. Aber es ging zu schnell. Mit einem kurzen Miauen verschwand sie in der Dunkelheit.
Und er war allein.
Eine Viertelstunde später befand sich Frank in der Notaufnahme des nahen Krankenhauses.
„Was ist denn mit Ihnen passiert?“
Der junge Arzt beobachtete Frank mit einer Mischung aus Unverständnis und Gleichgültigkeit.
„Ich habe ein Leben gerettet“, antwortete er geistesabwesend.
„Dann kann ich Sie morgen im Fernsehen bewundern?“
Er glaubte ihm nicht. Und Frank wurde bewusst, dass ein Held immer einen Zeugen für seine Taten brauchte. Ansonsten blieb man nur eine merkwürdige Figur im blutigen und durchnässten Pyjama. Ein weiterer Bewerber für die Hitliste der schrägsten Patienten der Nachtschicht.
Nach dem (ernst gemeinten) Versprechen, am nächsten Tag noch einmal zur Untersuchung zu kommen, hatte Frank das Krankenhaus wieder verlassen. Teilnahmslos ging er die Straßen entlang, fühlte sich aber auf ungewohnte Weise leicht.
Bei seiner Wohnung angekommen, öffnete er die Tür und begab sich direkt in Richtung Schlafzimmer. Er machte das Licht an…
Und da sah er ihn. Auf seinem Bett.
Ein kleiner Notizzettel.
Er hob ihn auf und als er das in Großbuchstaben geschriebene Wort sah, erstarrte er.
´DANKE´
Für einen Augenblick hatte er Angst. Dass er den Verstand verlieren könnte. Und dann würde eine große Dunkelheit sich öffnen - und ihn verschlingen.
Doch es geschah nichts. Sein Verstand war klar. So klar wie lange nicht mehr. Und der Zettel war noch da.
Plötzlich erinnerte er sich. Nachdem die Katze den Keller verlassen hatte, war er allein gewesen, ganz allein. Irgendetwas war bei dem Blick in ihre Augen passiert. Er musste an Sonja denken, all der Schmerz nach ihrem Tod. All die Erinnerungen, die verlorene Zukunft.
Die Vergangenheit und die Zukunft. Sie waren noch bei ihm gewesen. Im Erdgeschoss dieses alten Hauses. Die Räume durch die er gegangen war. „Wie unser Haus“, dachte er. Und dann waren sie verschwunden, seine Begleiter. Mit der Katze. In die Nacht.
Frank ließ sich aufs Bett fallen. Er legte das kleine Stück Papier auf seine Brust, faltete die Hände darüber. Und lächelte.
„Danke“, sagte er in die Dunkelheit. Alles war jetzt wieder möglich.
Kurz darauf schlief er ein.
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2004 / 2012 |